Im Katalog wird der Versuch unternommen, für die Vorgeschichte der digitalen Abstraktion einen erweiterten Horizont zu beschreiben, eine Perspektive auf die Geschichte der nichtrepräsentativen Kunst, die von der ästhetischen Praxis der zeitgenössischen digitalen Kultur aus justiert ist und Entwicklungsstränge der allgemeinen Bildergeschichte verbindet, die oft getrennt erzählt werden. Da unser Interesse besonders den bewegten Formen abstrakter Bilder gilt, richten wir unseren Blick in der Geschichte der Avantgarde weniger auf die abstrakte Malerei als auf den abstrakten Film, die kinetische Plastik, den Tanz, und, in einer zweiten Generation der Avantgarde, auf die Kunstkonzepte der Op Art, der neuen Tendenzen, der frühen algorithmusbasierten Computergrafik. In der Kunst- und Bildtheorie der letzten Jahre stossen wir auf werkbasierte Reflexionsräume und Vermittlungsmethoden, die unserem Onlinekatalog als Anregung dienen können. So gab die Kuratorin der documenta 13 im Jahr 2012, Carolyn Christov-Bakargiev, dem ersten Raum ihrer Ausstellung den Titel 'brain'. Von den Kunstwerken, Objekten, Fotos und archäologischen Fundstücken in diesem Hirn-Raum aus sollten sich die folgenden Ausstellungsräume der documenta mit ihren Exponaten der zeitgenössischen Kunst erschliessen und besser verstehen lassen. Eine solche Schlüsselfunktion kann unser Katalog für das Verständnis der in Auftrag gegebenen Kunstwerke unseres Forschungsprojekts einnehmen. Er dient zuerst den ForschungsteilnehmerInnen, also den KünstlerInnen und AutorInnen, als Archiv der Anregung, der Auseinandersetzung und Horizonterweiterung.
Von Georges Didi-Huberman stammt eine inspirierende Definition. Er nennt Giorgio Vasaris Sammlung von Meisterzeichnungen aus dem 16.Jh. eines der grundlegendsten Werkzeuge seiner Kunstgeschichte. (-) Eine Sammlung zusammenzustellen bedeutete nicht, die im Gang befindliche Geschichte mit einer Reihe von konkreten Beweisen zu illustrieren, es bedeutete eher, die Wirklichkeit solcher Beweise vorzufabrizieren, ja, es lief letztendlich darauf hinaus, eine Geschichte zu erfinden, insofern diese eine rhetorische Strategie des Sammelns wäre. Es lief darauf hinaus, sich für eine Ordnung noch vor den Beweisen, für Bezüge noch vor den Sachverhalten zu entscheiden. Es lief im Grunde darauf hinaus, eine Wirklichkeit — gemeint ist: eine symbolische Ordnung — für die Geschichte zu erfinden. Es ging darum, etwas einzurahmen, herauszustellen, was herauszustellen als notwendig erschien, oder auch — an anderer Stelle — Rang-, Vorrang-, Analogiebeziehungen usw. herzustellen; kurz, es ging darum, sich gegenüber den Gegenständen gesetzgebend zu verhalten und ihnen einen Sinn zu verleihen. (Georges Didi-Huberman, Vor einem Bild. München: Hanser Verlag 2000, S.79)

--> Katalogformen als Thema der zeitgenössischen Kunst (einige Beispiele und Bilder).